Hybrider Erinnerungsraum durch ein Tangible User Interface
MASTERARBEIT
Das digitale Zeitalter verändert auch die Erinnerungspraxis. Das Ordnen und Bewahren von Erinnerungen und Erinnerungsstücken lässt sich jedoch nur bedingt in die digitale Welt übertragen. VERDA ermöglicht daher die Kombination von digitalen und physischen Erinnerungsstücken und damit die narrative Kontextualisierung. Der Erinnerungsprozess, der Austausch über Erinnerungen und die Weitergabe von Biografien werden gefördert. Erreicht wird dies durch eine physisch greifbare Benutzeroberfläche und eine App als virtuelles Gegenstück. Letztere erweitert das physische Interaktionsobjekt um zusätzliche Funktionen.
Ausgangslage
Digitale Informationen liegen fragmentiert an verschiedenen Orten vor und lassen sich daher nur schwer mit Erinnerungsgeschichten verknüpfen. Dies hat zur Folge, dass zum einen die Speicher der Geräte überquellen, Daten in Foren und Streaming-Plattformen ungesichert verloren gehen und zum anderen die verstreuten Informationen nicht zu einer kohärenten Erzählung kombiniert werden können. Dadurch werden Erlebnisse schlechter mental verarbeitet und das Teilen von Erinnerungen und Geschichten mit Freunden oder Nachkommen wird erschwert und drohen verloren zu gehen.
Zielsetzungen
Die entworfene Anwendung VERDA soll es ermöglichen, Erinnerungen an Erlebnisse und deren Artefakte aus der digitalen und physischen Welt miteinander zu kombinieren und den sozialen Austausch darüber zu erleichtern.
Gestaltungsprozess
[1] Therorieteil
Für die Entwicklung der Anwendung wurde das Wesen des biografischen Erinnerns aus der psychologischen Forschung abgeleitet. Darüber hinaus flossen fachliche Methoden der Biografiearbeit ein. Ergänzt wurde die theoretische Basis durch eine kritische Betrachtung des digitalen Zeitalters aus philosophischer Sicht. Das Konzept der Tangible User Interfaces bot dabei einen Lösungsansatz die digitale und physische Welt user:innenorientiert zu verbinden.
[2] Statistische Erhebungen und Interviews
Der wissenschaftliche Ansatz wurde durch Statistiken, eine Umfrage und Interviews ergänzt. Ziel war es herauszufinden, wie der Mensch in Bezug auf seine Lebenserinnerungen beschaffen ist, wie sich das digitale Zeitalter auf die Menschen in ihren Erinnerungsweisen auswirkt und wo die Potenziale und Herausforderungen liegen.
[3] Ideation
Der geplante Erinnerungsraum verwendet greifbare Objekte als physische Erinnerungshilfen, die das Erinnern, die Interaktion und die Organisation von Erinnerungen erleichtern. Die Objekte dienen als Denk- und Erinnerungshilfen, bieten Interaktionsmöglichkeiten und geben Feedback. Durch ihre virtuelle Identität werden sie erweitert und in einen virtuellen Erinnerungsraum integriert, der auch die Kontrolle über digitale Daten ermöglicht.

Eine Übersichtsgrafik gliedert die Anforderungen für eine Unterstützung des biografischen Erinnerns in drei Bereiche:
Der erste Bereich konzentriert sich auf das Sammeln, Kuratieren und Teilen von Erinnerungen.
Im zweiten Bereich der Anwendung geht es um das Bewahren und Verstehen der Erinnerungen, sowohl für die persönliche Identität als auch für den kollektiven Gedächtnisaustausch.
Der dritte Bereich befasst sich mit der Schaffung eines symbolischen Meta-Artefakts zur Darstellung der gesamten Autobiografie, das in Rituale eingebunden werden kann.
[4] Konzeption
Es wurde ein Konzept entwickelt, das Smartphones in eine Objektkonstellation integriert und auf die für die Erinnerungsarbeit relevanten Funktionen beschränkt. Eine App führt den Benutzer durch den Erinnerungsprozess, unterstützt durch ein Tangible User Interface. Ziel war ein irritationsarmer, intuitiv bedienbarer hybrider Erinnerungsraum, der die Freude am Erinnern anspricht. Der Entwurf sollte emotional und subjektiv nachvollziehbar sein durch bereits verankerte Bilder.
Moodboard
[5] Prototyping
Der hybride Erinnerungsraum
Die geplante Objektkonstellation soll digitale und analoge Artefakte sortieren, Erinnerungen zuordnen und wecken sowie das Erfassen, Teilen und Vererben ermöglichen. Die Biografiearbeit soll in einen hybriden Interaktionsraum übertragen werden, um einen hybriden Erinnerungsraum zu schaffen, in dem Methoden wie der „Zeitstrahl“ und das „Lebenspanorama“ zum Einsatz kommen. Der Fokus liegt auf den Meilensteinen des Lebens, an die man sich besonders gut erinnern kann und die Lebensgeschichte auf das Wesentliche reduzieren.
[5.1] Digitaler Erinnerungsraum
Ein digitales Pendant als klickbarer Prototyp wurde entwickelt, um die Ausgangslage für eine App zu schaffen, die Nutzer*innen im Erinnerungsprozess unterstützt und die Zuordnung von digitalen und physischen Artefakten ermöglicht. Dabei wird die Smartphone-Kamera für AR-, QR-Code- und 3D-Scans sowie Sprachaufnahmen und das Hinzufügen von Erinnerungsartefakten aus Chats und dem Gerätespeicher genutzt.
Stile Tile

[5.2] Physischer Erinnerungsraum
Ein Usertest zeigte, dass die Interaktion hauptsächlich über die App erfolgt, was den intuitiven Erinnerungsprozess stören kann. Daher wurde entschieden, dass die Nutzer:innen bereits über das physische Objekt zwischen einem Artefakt und einer Erzählung wählen können. Zusätzlich können drei „Fakten-Elemente“ in Form von gedruckten Karten hinzugefügt werden, um biografische Fakten über das physische Erinnerungsobjekt zu integrieren. Diese werden in der App gespeichert und spezifischen Meilenstein zugeordent.




Physisches Modell
Das physische Modell wurde in der Modellwerkstatt der HTWD umgesetzt, wobei hauptsächlich natürliche Materialien verwendet wurden, um die im Rendering entworfenen und visualisierten Details zu reproduzieren. Die Erinnerungssteine und die Schale wurden im 3D-Druckverfahren aus Resin hergestellt und anschließend farbig lackiert.
Der Kasten und die Baumscheibe wurden mit einer CNC-Fräse hergestellt und ebenfalls lackiert bzw. lasiert. Der Schlussstein, womit das Erinnern an den Meilenstein abgeschlossen wird, wurde in Bronzegussverfahren über eine Feingießererei hergestellt. Um die Steine sicher aufzubewahren, wurden am Ende kleine Taschen genäht, die bereits das Auspacken zu einem rituellen Vorgang machen und die Vorbereitung auf das Erinnern unterstützen.
[6] Branding
Naming
Als Symbol für die Verbindung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft wurde die Schicksalsweberin aus der nordischen Mythologie gewählt. Die Anwendung integriert das Weben von Geschichten und Artefakten, um verschiedene Erinnerungen zu einer Geschichte zu verknüpfen, und zwar immer aus der Gegenwart heraus. So war die Schicksalsweberin der Gegenward Verdandi die Namensgeberin. Dieser Name wurde zum international verständlichen „Verda“ abgewandelt. Der Name VERDA ist zudem leicht auszusprechen, einprägsam und altersunabhängig positiv besetzt.
Mythologische Grundlage

Die Nornen aus der nordischen Mythologie, die Schicksalsweberinnen, stehen für die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Urd symbolisiert die Vergangenheit, Verdandi die Gegenwart und Skuld die Zukunft, entsprechend den Wurzeln, dem Stamm und den Ästen der Weltenesche Yggdrasil.
Logo
Das konzentrische Muster der Jahresringe wird auf einen Meilenstein projiziert und von diesem subtrahiert. Die Bildmarke wird natürlich, aber auch klar, beruhigend und gleichzeitig spannungsvoll durch die angedeutete Räumlichkeit der Kreise. Das Symbol erinnert auch an einen Fingerabdruck. Dies ist passend, da es sich um seine persönliche Geschichte handelt, die mit VERDA aufgezeichnet wird.




Ergänzende Medien
Um ein Beispiel für die Anwendung des Corporate Designs zu geben und damit die Übertragung des Style Tiles der App auf Printmedien zu testen, wurde das Medium Postkarte gestaltet. Auf der Vorderseite stehen die Meilensteine im Mittelpunkt. Die Prägungen oder Muster auf den Meilensteinen werden durch korrespondierende Kreise, die eine Lebensgeschichte symbolisieren, hervorgehoben.
Auf der Rückseite bietet die Postkarte einen direkten Anknüpfungspunkt und Einstieg in die Erinnerung. Wie in der App wird zu Beginn nach den wichtigsten Meilensteinen im Leben gefragt. Diese werden den Kieselsteinen durch Striche zugeordnet. Dies weckt das Interesse, diese Erinnerungen mit VERDA zu ordnen und mit Geschichten aufzuladen und zu hinterlegen.


[7] Fazit und Ausblick
Die vorgestellte Arbeit hat das Potenzial, die soziokulturellen Aspekte der Erinnerung auf die menschliche Psyche und Interaktion zu unterstützen. Das hybride Objekt erleichtert das Erzählen, den Austausch über Erlebtes und die Weitergabe von Wissen an andere. Dadurch werden Erinnerungsmilieus aufrechterhalten und der Einzelne kann sich selbst im Licht anderer und im Licht seiner Vergangenheit sehen.
Die konkrete Ausgestaltung des Konzepts kann dabei auch weiterentwickelt oder ganz andere Formen oder Bezeichnungen erhalten. Das Produkt sollte die einzelnen Teilbereiche der biografischen Erinnerungsarbeit abbilden und eine Möglichkeit aufzeigen die Diskrepanz, zwischen den Bedingtheiten virtueller Netzwerke und Informationsspeicherung und der menschlichen Veranlagung zu erinnern, zu überwinden. Die vorgestellte Lösung zeigt einen Weg auf, wie durch Interaktions- und Produktdesign neue Räume für die Erinnerungskultur geschaffen werden können, während Alte dem digitalen Zeitalter weichen.